|
![]() ![]() (verfasst im Januar 2000 - die Darstellung im Internet ist einigen Teilen gestrafft)
Wahlrechtsentscheidungen haben immer einen großen Einfluss auf den Ausgang von Wahlen, auf
die Zusammensetzung der Parlamente, auf die jeweilige Mehrheitsbildung gehabt. Und die Diskussionen
um Wahlrechtsfragen haben deshalb naturgemäß immer eine große Konjunktur gehabt -
natürlich vor allem unter Experten. Erstaunlich ist nur, dass es in Deutschland sehr lange -
eigentlich seit den 70er Jahren - so still geblieben ist zur Thematik des Wahlrechtsentscheidungen.
Zumindest in Hessen hat dies seit Ende 1999 nicht mehr Bestand.
Die Änderung des Hess. Kommunalwahlgesetzes (verabschiedet im Dezember 1999, veröffentlicht
im GVBl. 1/2000) war eine der überraschendsten und vielleicht einschneidendsten Maßnahmen
der neuen Landesregierung. Für mich persönlich kann ich sagen, dass diese jetzt
vorgenommene Änderung schon lange Zeit eine meiner Forderungen zur Wahlrechtsgesetzgebung war.
Und anfügen möchte ich, dass ich gleichzeitig
für eine vergleichbare Änderung auch im Personalvertretungsgesetz eintrete.
Mit Wahlrechtsfragen beschäftige ich mich seit meinem Studium Anfang 1960. Schon in den
50er Jahren hatte mich eine Meldung zu Wahlrechtsfragen, die damals durch die deutsche Presse
ging, fasziniert. In München war es einer resoluten FDP-Frau -
widerspenstig gegen Funktionäre und ehrgeizig - bei Kommunalwahlen gelungen, sich gegen die
Parteilinie mit Hilfe der Wähler durchzusetzen. Sie war auf der Parteiliste der FDP ganz nach
hinten gesetzt worden. Aber die Wähler hatten sie - mit Hilfe von Panaschieren und Kumulieren
(was es damals wie bis zum Jahr 2000 in Hessen nicht gab) - ganz nach vorne und in den Stadtrat von
München gebracht. Der Name der Dame ist Dr. Hamm-Brücher.
Während meines Studiums habe ich mich besonders intensiv mit der Problematik, den
Möglichkeiten und Auswirkungen von Wahlrechtsänderungen befasst und wann immer
möglich, diese Thematik zu Semester- und Examensthemen ausgewählt. Natürlich habe
ich auch seitdem immer die aktuelle Diskussion jeweils verfolgt.
Die Reformen im Kommunalwahlgesetz (KWG) mit der Möglichkeit zu Panaschieren, Kumulieren,
der Abschaffung der 5 %-Klausel; aber auch die Änderungen in der Hess. Gemeindeordnung (HGO) zu Gunsten der direkt
gewählten Bürgermeister usw. werden m. E. die politische Landschaft in den betroffenen
Parlamenten verändern. Dies dürfte für alle Städte, Gemeinden und Kreistage in Hessen gelten, vielleicht
weniger in den größeren Städten über 50.000 Einwohner, aber insbesondere in den Gemeinden bis 10.000 Einwohnern.
Mit den Änderungen wird in Hessen ein Stück mehr von dem verwirklicht, was Willy Brandt
bei seiner Einführung als deutscher Bundeskanzler einmal "mehr Demokratie wagen" nannte.
Ziele der SPD waren damals "den politisch gebildeten Bürger formen". Das sollte gehen bis
zur auf dieses Ziel hin angelegte Änderung des Schulwesens: Den Homo politikus durch mehr
Bildung hervorbringen. Man
möchte manchmal heute die SPD-Politiker an die Aussagen von damals erinnern, wenn man Aussagen
von SPD-Politikern zum neuen Wahlsystem hört wie: "Der Wähler wird überfordert"
Ein paar Schlagworte:
Vielleicht nutzt das neue Wahlrecht auch etwas gegen die Politikverdrossenheit:
Durch die Anwendung des neuen Wahlrechts werden mit Sicherheit Parteien, Funktionäre,
Ideologien, Parteimitglieder-Versammlungen (die vorher das alleinige Recht auf Vergabe besonders
erfolgsträchtiger Listenplätze hatten) an Einfluss verlieren. Vollends natürlich
nicht, das wäre zu schön (ich werde darauf noch eingehen).
Aber eines kann gesagt werden: Die Rechte, der Einfluss der Wähler werden gestärkt
werden, aber auch die Chancen von Persönlichkeiten auf Teilhabe an der Macht (= damit ist gemeint, Abgeordneter zu sein oder zu werden) wird sich vergrößern.
Und noch eines: Der Einfluss von Partei-Strategen (Begriff "Seilschaften" ist bekannt),
von Partei-Taktikern wird gleichfalls schwinden. Es wird nicht mehr so einfach sein, die Z
usammensetzung von Parlamenten im voraus ziemlich genau zu bestimmen. Der Wähler ist
weit mehr als bisher am Hebel.
Nun heißt es bereits in einigen Kommentaren, vielleicht mit einem negativen Touch:
"Wählen wird schwieriger werden - gewählt zu werden nicht leichter"
(so eine dicke Überschrift in einer lokalen Zeitung im Dezember)
Aber: Ist der Wähler schon überfordert, wenn er mehr als ein oder zwei Kreuzchen machen
kann (nicht: muss)? Ist das Beispiel DDR (von Diktaturen überhaupt) nicht abschreckend genug? - Dort wurde dem
Wähler praktisch alles abgenommen. Er musste sich nur noch den Stimmzettel holen und gleich
wieder abgeben. Ein bisschen mehr Mühe darf doch wohl sein.
Ich will meine Vorrede mit diesen Schlagworten schließen. Kommen wir mal zu den Grundlagen
der Demokratie (der Volksherrschaft).
"Alle Gewalt geht vom Volke aus", so steht es im Grundgesetz (GG), Art. 20,2. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen
... ausgeübt.
"Vom Volke, durch das Volk, für das Volk" - oder: "off the people, by the people, for the
people" (die Staatsgewalt geht vom Volke aus).
Art. 38,1 GG bestimmt dann noch über Wahlen: Die Vertreter des Volkes werden gewählt
"in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl".
So weit, so klar.
Aber wie? - Wie wählt das Volk seine Vertreter aus? Mit welchem Wahlrecht? Dazu sagt das
Grundgesetz nichts. Wie kann denn die Auswahl der Volksvertreter erfolgen? Sieht man sich einmal
um, dann gibt es nicht "die" eine Möglichkeit, sondern eine ungeahnte Vielfalt von
Möglichkeiten.
Lassen Sie uns einmal kurz über die Grenzen und ebenso knapp in die Vergangenheit sehen.
Ich tue das nicht ohne Hintergedanken. Ich bin sehr zuversichtlich, dass Sie sich alle eine
fundierte Meinung zu der anstehenden Wahlrechtsänderung bilden können, dazu bereit sind.
Ich will Ihnen nicht nur platt eine Meinung gegen oder eine Meinung für etwas referieren,
sondern ich möchte Sie über Hintergründe, geschichtliche Entwicklungen,
Möglichkeiten von Wahlrechtsregelungen, -änderungen, -reformen, -manipulationen
informieren. Auch natürlich meine Meinung darlegen. Aber Ihre Meinung sollten Sie sich
selbst nach Argumenten nach dieser Vorstellung bilden.
Einige Staaten haben ihr Wahlrecht über lange Zeit gar nicht oder nur wenig verändert:
USA, England. Andere Staaten sehr oft: in Frankreich wurde das Wahlrecht von 1871 - 1940 alleine
8x (=alle 9 Jahr durchschnittlich) geändert. Auch in Deutschland gab es mehrere Variationen,
ganz unterschiedliche.
Das jeweilige benutzte Wahlsystem zur Bestimmung der Volksvertretung / der Volksvertreter war
jeweils ungemein wichtig. Und: Jedes Wahlsystem wird immer mit den edelsten Argumenten
begründet.
Welche Argumente werden beispielsweise in der Diskussion genannt?
dann gibt es noch die Formulierung von Ansprüchen:
usw.
Wie brisant die Frage des Wahlsystems ist (ich werde gleich auf Einzelheiten in Beispielen zu
sprechen kommen), zeigt, dass damit z. B. die Existenzfrage für einzelne Parteien gestellt
sein kann.
Nicht umsonst ist sofort nach Bekanntwerden der Wahlrechtsänderung für das hess.
Kommunalwahlrecht behauptet worden: Die Änderung solle nur dazu dienen, die FDP zu erhalten
oder zumindest zu stützen bzw. ihre kommunalpolitische Wiederauferstehung einzuleiten.
Aber: Hierbei möchte ich einmal feststellen, dass zumindest das Wort "Wahlrechtsmanipulation"
bisher nicht gebraucht wurde. Als eine Manipulation kann man die neuen Regelungen sicherlich nicht
diffamieren. Welche Interessen hinter dieser Reform (dies ist das richtige Wort) stehen - und welche
Interessen bei den Gegnern bestehen, dies sollen meine Erläuterungen zu den möglichen
Wahlsystemen verdeutlichen.
Um sachlich fundiert urteilen zu können, gilt es zuerst einmal, eine kurze Systematik
darzustellen, um Regeln und Hintergründe darzulegen:
Von der Systematik her kann man Wahlsystem in drei Gruppierungen einteilen (eigentlich nur in zwei):
Die VW ist eine Erfindung neuerer Zeit. - Die MW hat eine lange Tradition.
Das Mehrheitswahlprinzip ist das einfachste und auch natürlichste: Wer die meisten Stimmen hat,
ist gewählt. In der Nationalversammlung in Frankreich beispielsweise repräsentierte der
Abgeordnete seinen Ort. In GB seit früher Zeit ein relatives Mehrheitswahlrecht.
18. Jhd. - 19. Jhd.
Reichsstände - altpatriachalische Verhältnisse - Versammlung der Notabeln
Provinzialversammlungen - Reichsversammlung der drei Stände - der Dritte Stand
erklärte sich als Nationalversammlung - Wille zur Demokratie.
VW als Idee erstmals 1793 während der frz. Revolution im Nationalkonvent vertreten, a
llerdings nicht durchgesetzt.
Grundlage: überregionale Parteien, ein zentralistischer Parteienstaat, "spiegelbildliche
Repräsentanz der Meinungen" (= Ideologien).
Aber VW stand nicht im Vordergrund der Diskussionen im 19. Jhd.
Die Ziele in Bezug auf Wahlen im 19. Jhd. waren eher die Grundsätze des Art. 38,1 (frei,
gleich, unmittelbar, geheim). D. h., das Drei-Klassen-Wahlrecht von Preußen abzuschaffen
(zum Spott der übrigen Länder in Deu. und Europa), Frauenwahlrecht einzuführen,
Prinzip der Gleichheit von Wahlkreisen (Beispiel Ruhrgebiet, Landkreise (passive
Wahlkreisgeometrie),
Reichstag: ursprünglich 397 Wahlkreise mit ca. 100.000 Einwohnern, später große
Unterschiede (verursacht durch industrielle Entwicklung - Sturkturwandel - Bevölkerungswanderungen (Ruhrgebiet) -
Landflucht).
Auf die Einführung des VW-Systems drängte vor allem Dingen die SPD. Sie war deutlich benachteiligt
(Wahlkreisgeometrie), die SPD hatte die Mehrheit der Stimmen, aber nicht die Mehrheit der
Abgeordneten im Reichstag.
Ein anderes Argument zur Einführung des VW-Systems war "Schutz der Minderheit". Dies
Argument führte auch zur ersten Einführung (1855) des VW-Systems in Dänemark:
zum Schutz der dänischen Minderheit in der Provinz Schleswig (wo Dänen die Mehrheit
hatten, blieb es beim MW-System!). Danach wurden Formen des VW-Systems in Serbien, einigen
Schweizer Kantonen, Skandinavien (1906 in Baden-Wurttemberg) eingeführt.
Hier noch einige Anmerkungen zur Einführung der VW in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts:
Nach 1918 gab es eine Welle der Einführung des neuen VW-Systems, u. a. auch im Deutschen
Reich. Harte Diskussionen nach 1919, bis dann im Deutschen Reich ein VW-System im reinsten
Proporzsystem beschlossen wurde. Praktisch gab es für das Deutsche Reich pro 60.000
Stimmen einen Sitz im Reichstag. Versuche, eine Drosselung (z. B. durch eine Quorum)
einzuführen, scheiterten letztlich 1929 vor dem Staatsgerichtshof.
Nach 2. Weltkrieg in Deutschland:
Nach 1945 sprachen viele dem reinen Proporzsystem eine entscheidende Schuld am Scheitern der
Weimarer Republik zu (Parteienzersplitterung, keine klaren Regierungsmehrheiten). Dies
bestimmte nachhaltig die Einführung der Wahlsystematik. Es ist beileibe nicht so
gewesen, dass in der entstehenden Bundesrepublik unser heute gewohntes Wahlsystem von
Anfang an klar gewesen wäre. Je nach Besatzungszone gab es unterschiedliche Wahlsysteme:
Besatzungsmächte nahmen Einfluss auf Bildung neuer deutscher Regelungen (in Schlagworten):
Französische Zone: VW
Amerikanische Zone: VW, z. T. 10%ige Sperrklauseln (in Bayern in Verf. Festgelegt, jüngst
vom BverfG gestoppt worden - FDP-Klage), in Bremen MW, dann 1947 VW (Mischsystem (42 Sitze
per MW, 29 Sitze per VW)
Britische Zone: uneinheitlich, Mischwahlsysteme, MW in Hamburg bis 1953 (MW = durch SPD !!)
Einige interessante Details:
noch ein paar Infos zur Wahlrechtsdiskussion in der Bundesrepublik:
Namen von Theoretikern: Dolf Sternberger, Peter von Oertzen, Karl Dietrich Bracher, Kaltefleiter
Heute haben wir im Bund ein Verhältniswahlsystem mit einer kleinen Komponente
Mehrheitswahlsystem (2 Stimmen: 1. Stimme für Liste, 2. Stimme für Wahlkreiskandidaten;
man spricht bei diesem Mischsystem auch von "unechter Personalisierung"). Entscheidend für
den Wahlausgang ist die VW-Liste. Es erfolgt eine Anrechnung der Direktmandate. Dabei kann es zu sog.
Überhangmandaten kommen. Klausel zur Anrechnung der Stimmen in Mandate: 5 % oder drei Direktmandate. (derzeit : Überhangmandate
werden nicht ausgeglichen, Grüne wollen BverfG anrufen).
Entwicklungen zur Wahlberechtigung: (in Schlagworten)
Was ändert sich für den Wähler nun konkret? - Was steht in den einzelnen Paragrafen?
Keine Angst, ich werde sie nicht vorlesen! Das Gesetz, verkündet am 23. Dez. 1999,
veröffentlicht im GVerBl 1/2000 vom 4. Januar 2000, heißt:
"Gesetz zur Stärkung der Bürgerbeteiligung und kommunalen Selbstverwaltung"
Im Paragraf 1,1 steht: die Parlamente werden "nach den Grundsätzen eines mit einer
Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt". Dies ist eine ganz klare Aussage:
Es bleibt beim VW-Recht. Verteilung der Mandate ausschließlich nach Proporz. Fälschlich
wird oft gefolgert, es würde eine Verschiebung zu einem Mehrheitswahlrecht erfolgen. Dies
muss deutlich verneint werden.
In § 18 KWG (auf Paragraphen wede ich aber im weiteren verzichten) heißt es, und dies
ist die umfassendste änderung im KWG
Was bedeutet dies?
Zuerst: Zustimmung vor allem bei Bürgerlisten (wie FWG und Bürger für Marburg),
schon immer gefordert.
In Bayern und Baden-Würt. seit 50 Jahren Usus, es gibt von dort keinerlei Widerstände.
Sie sind jedenfalls nicht veröffentlicht in einschlägiger Literatur.
Auch Herr Kersting (von OP-Marburg gern zitierter Politologe, Anhänger der rot/grünen
Koalition, offensichtlich Mitglied der Grünen) hat dies bestätigen müssen. Er
zählt übrigens nicht zu den heißen Vertretern des Panasch. und Kumulieren
Panaschieren und Kumulieren bedeutet m. E. mehr Auswahl, mehr Einfluss der Wähler auf die
Zusammensetzung der Parlamente, auf die Wahl einzelner Kandidaten. Konnte bisher nur Listen
(starre Listen = Fachausdruck) wählen, kann jetzt der Wähler sein eigenes Parlament
zusammenstellen, sogar Stimmen häufeln auf bevorzugte Kandidaten.
Argumente - Gegenargumente
Bekanntheit der Kandidaten - "Honorationenprinzip"
Als Kritik wird angeführt, dass vor allem der Bekanntheitsgrad der Kandidaten entscheidend sei.
Fachleute hätten keine Chance. Der "Vereinvorsitzende" immer wieder angefügt. Aber warum
soll ein Vereinsvorsitzender, der ehrenamtlich seit langem tätig ist und damit viele
Fähigkeiten nachgewiesen hat, nicht auch politisch wirken können? Warum Fachleute
immer nur unbekannt bleiben müssen, sollte auch erst einmal belegt und begründet werden.
Honoratioren seien auch im Vorteil, wird angeführt. Aber warum denn nicht (die besten
sollen es sein!)
Grundsatz: beste Leute ins Parlament, darüber entscheidet mit der Möglichkeit zum
Panaschieren nur noch der Wähler. Die Vorauswahl liegt zwar immer noch bei den Parteien,
aber die Auswahlkriterien werden sich ändern.
Wer entschied bisher? - 2 bis 3 % der Bevölkerung (= Anteil der Parteimitglieder), und
dann meist nur noch deren Delegierte !!!
SPD ist dagegen, dass z. B. jetzt angeblich mehr "Honoratioren" gewählt würden, hat
aber hat diese immer als "Unterstützer" gerne genommen (Vereinvorsitzende). Sie wurden
jedoch immer weit hinten auf den Listen - in aussichtloser Position - platziert.
Bisher fanden sich auf den Parteilisten sehr oft die Funktioräre an den obersten und
aussichtsreichen Stellen, gleichgültig, ob bekannt oder nicht so bekannt. Gerade Beispiele aus
der Marburger jüngsten Parteienlandschaft (Wahlen 1997) belegen dies. Herr Schüren hat
sich eine Mannschaft zum Stadtparlament zusammenwählen lassen (auf Delegiertenkonferenz), die
eindeutig seiner Linie folgen würde mit Namen, die vorher kaum jemand in Marburg kannte, aber
offenbar Herrn Schüren genehm waren. Andere wurden nicht mehr aufgestellt, oder nur noch ganz
weit hinten. Dies geschah mit einer Art "Listenbereinigung": Abweichler von der Fraktionslinie
(=Parteilinie) wurden von Chef der Partei nicht mehr aufgestellt bei der nächsten Wahl
(Schüren-Beispiel) - oder ganz nach hinten transportiert.
Aber auch jetzt ist die Listenaufstellung noch nicht ganz fair: Liste erhält Gewichtung.
Beim alleinigen Ankreuzen einer Liste (ohne Panaschieren und Kumulieren) verteilt der Wahlausschuss
die Stimmen, und zwar von oben nach unten. Dabei können die Bewerber auf den vorderen
Plätzen durchaus Vorteile erhalten.
Einen Nachteil hat das neue System für die sog. Unterstützer (die hinten drauf gehen).
Sie können gewählt werden. Eine Partei sollte es sich jedoch zweimal überlegen, ob
sie "Unterstützer" auf ihre Liste draufsetzt. Diese können gewählt werden. Treten
sie kurz nach der Wahl zurück, dann kann dies einen Vertrauensverlust für die Partei bzw.
Liste zur Folge haben.
Auswirkungen für Parteien
Keiner kann sich eines Listenplatzes mehr sicher sein. Es müssen Kandidaten auf Stimmzettel,
die Stimmen bringen. Denn: Die Gesamtzahl der Einzelstimmen für die Kandidaten ist
ausschlaggebend für die Mandatsverteilung auf die Listen.
Also: Aussehen der Listen wird sich ändern, andere Personen aus den Parteien werden auf den
Listen erscheinen, oder weiter vorne, andere weiter hinten.
Weniger Funktionäre werden Listen bevölkern, mehr in der Öffentlichkeit Bekannte,
weniger gerade Hinzugezogene (Ortsfremde), die haben kaum noch eine Chance.
Von der Bevölkerung anerkannte Kandidaten werden gewählt werden. Nicht die Partei oder
die Parteidelegierten, die Funktionäre bestimmen.
Allerdings: Bei einer Nachfrage in Bayern bestätigte mir ein Wahlleiter einer g
rößeren Stadt: fast 80 % der Wähler geben nur ein Kreuz für eine Liste ab und
verzichten auf Panaschieren und Kumulieren. Die Kandidatinnen und Kandidaten, die bei den Listen
ganz oben stehen, können fast mit Sicherheit damit rechnen, dass sie in die Parlamente
einziehen. In Hessen wird sich dies wahrscheinlich auch so entwickeln.
Allerdings: in kleinen Gemeinden dürfte wesentlich mehr als in größeren Gemeinden
panaschiert und kumuliert werden. Vor allem dürfte dies für alle Ortsbeiräte
zutreffen.
Also: insgesamt werden Parteien Einfluss auf Parlamente verlieren, in kleinen Gemeinden fast ganz,
in größeren jedoch ebenfalls.
Argument: Stimmzettel sei zu umfangreich
Als weiteres Argument gegen Panaschieren wird angeführt, dass der Stimmzettel zu umfangreich
sei. Aussage: meine Oma geht nicht wählen, sie kann nicht alles verstehen. Dabei wird gerne
der Stimmzettel von München hochgehalten. Mit einem solch großen Stimmzettel - so
hat es fast den Anschein - will man dem Wähler Angst einjagen.
Dies ist eine Übertreibung (Manipulation, Wähler von der Wahl abhalten)
Hat mit Realität in 95 % aller Wahlkreisen überhaupt nicht zu tun.
Argument: Zu hohe Kosten
Dazu dies: Wenn Parteien pro Jahr 270 Mill. DM n Deu. für ihre Aufgaben erhalten, dazu 50 %
Steuernachlass aller Spenden, dann doch einige Märker mehr für zusätzliche Rechte
der Wähler, des Souverän gestattet.
Argument: Angst vor gegenseitiger Profilierung
SPD sagt: Keiner soll sich auf Kosten anderer Parteimitglieder nach oben katapultieren wollen. Wird
wohl ein frommer Wunsch bleiben, als Lippenbekenntnis: JA - in der Realität: NEIN.
d. h. Es werden vor allem in kleinen Gemeinden nicht mehr Partei gegen Partei kämpfen, sondern
einzelne Bewerber um Stimmen (möglichst kumuliert) buhlen.
Damit erreicht Panaschieren, Kumulieren fast die Qualität von Mehrheitswahlen (wie bisher bei
einer Dorfliste)
(In diesem Abschnitt werden im Vortrag mehrere Beispiele mit Hilfe einer
Darstellung per Overhead-Projektion verdeutlicht und beispielhaft ausgefüllte
Stimmzettel ausgeteilt.)
Was darf der Wähler - was darf er nicht
Mögliche Fehler:
Wegfall der 5% -Klausel
Da 5 %-Klausel entfällt, sogar "reiner Proporz" - ohne Ausschaltung kleiner und kleinster
Minderheiten.
Folgende Beispiele verdeutlichen, was dies für die heimischen Parlamente bedeutet:
Vorwurf: Es sei von großem Nachteil, dass zu viele Kleine in die Parlamente kämen
(= Zersplitterung). Aber: Je mehr Kleine sich bewerben, je höher wird die Schwelle werden
(bis 0,8 % denkbar). Auch kann das neue Wahlsystem für kleine Listen Nachteile haben. Das
Panaschieren/Kumulieren hat dann Nachteile, wenn Listen nicht mindestens 1/3 der möglichen
Plätze mit Kandidaten besetzen. Denn: Trotz maximalem Nach-Kumulieren durch den Wahlausschuss
gehen diesen Listen Stimmen verloren.
Beispiel: Ein Wähler kreuzt Liste 1 an. Alle Stimmen (in Marburg: 59) gehen an diese Liste,
wenn ausreichend Kandidaten auf der Liste stehen. Hat eine Liste jedoch nur 5 Bewerber, erhält
diese Liste maximal 15 (der möglichen 59) Stimmen zugesprochen. Diese Liste benötigt demnach 4x soviel
Unterstützer wie eine vergleichbare große Liste.
Stellungnahme gegen Vorwürfe, die Wegfall der 5 % - Klausel kritisieren:
Dazu Info: VerfGerichtshof Münster entschied am 6. Juli 1999 gegen 5 % in NRW. Argumente der
Landesregierung, der SPD und Grünen zogen nicht. Schon 1994 war NRW verpflichtet worden,
Gründe für Beibehaltung von 5 % zu überprüfen. PDS und Ökol. Demokr.
Partei (ÖDP) klagten.
Als Gründe für Beibehaltung der 5 % -Klausel wurden von NRW-Regierung vor Gericht
genannt:
Mit dem Wegfall der Hürde von 5 % besteht jetzt bei den Kommunalwahlen in Hessen ein reiner
Proporz. Alle Stimmen werden bei Verteilung der Mandate in Auszählungsverfahren mit
einbezogen. Bisher fielen die Stimmen der Listen, die unterhalb der Quotierung lagen, heraus.
Man kann jetzt schon vorher sagen, bei wieviel Prozent man ein Mandat oder zwei Mandate usw.
bekommt.
Am Wahlabend werden die Stimmen für die Bewerber und Wahlvorschläge zusammengezählt.
Die auf einen Wahlvorschlag entfallenen Stimmen ergeben sich aus der Summe der von den Bewerbern
erreichten Stimmen. Anschließend erfolgt die Verteilung der Mandate nach Hare-Niemeyer.
Weitere Gründe, die für Wegfall der 5 %-Klausel angeführt werden können
Regierungsbildung (wie bei Bundestag, Landtag) entfällt, wird oft verschwiegen.
Hessen hat eine Magistratsverfassung - noch klarer wäre: süddeutsche Ratsverfassung
Alle Parlamentarier sind aufgefordert (nicht nur die sog. Opposition), die Hauptamtlichen zu
kontrollieren. Wird Missbrauch getrieben (sog. Regierungsmehrheit, die nur noch OB oder
Landrat unterstützt, statt kontrolliert), dann ist Aufgabe für die kleine Opposition
schwer.
Aber wird kennen Beispiele im heimischen Raum dafür, dass ein Kommunalparlament ohne
"Koalition" seine Aufgaben erfüllt hat: Stadt Marburg bis 1997, jetzt im Landkreis.
Vorschau: Es wird ab 2001 mit Wegfall der Hürde von 5 % kaum noch Mehrheiten von zwei
Parteien - außer der sog. Großen Koalition - in Marburg oder auch im Kreistag
Marburg-Biedenkopf geben, geschweige denn Mehrheiten durch eine Partei.
§ 3a (neu) - Bildung von Wahlbereichen
Für Wahlen der Kreistage können in Hessen Wahlbereiche gebildet werden. (NICHT:
Wahlbezirke!)
drei Bedingungen:
Die Bildung der Wahlbereiche soll Ortsbezogenheit bringen. Sie sollen der Kritik entgegenwirken,
dass in großen Kreisen die Personen nicht bekannt seien und die Möglichkeit zum
Panaschieren eingeschränkt sei (Lokalbezug herstellen).
Der Beschluss zur Bildung von Wahlbezirken muss bis spätestens 47 Monate vor Ablauf der
Wahlperiode gefasst werden, Übergangsregelung für Wahl 2001: 3 Monate nach
Veröffentlichung im GVerBl (= 24. März 2000)
Bei Wahlbereichen sind verbundene Listen derselben Partei/Wählergruppe in den Wahlbereichen
möglich. Verteilung der Sitze: nach Hare-Niemeyer auf Bereiche und dann auf Kandidaten.
Im Vorfeld der Diskussionen zeigte sich, dass der Hess. Städtetag dagegen war, diese Regelung
auch auf Gemeinden und Städte auszudehnen
§ 11 - beliebig viele Bewerber möglich, aber begrenzte Anzahl auf Stimmzettel (s.o.)
Ein Wahlvorschlag darf beliebig viele Bewerber enthalten. Bei Wahlbereichen darf ein Bewerber in
mehreren Wahlbereichen auf Liste aufgeführt werden. Die Reihenfolge muss festgelegt werden.
(bei MW: alphabetisch!). Aber damit vergleichen: § 12 u. 34
§ 12 und § 34 - Ersatzlisten können aufgestellt werden
§ 15 - Reihenfolge auf Wahlzettel
Neu wurde bestimmt, dass die Reihenfolge für Listen auf dem Wahlzettel wie folgt festgelegt
wird:
§ 18 - keine Wahlumschläge mehr
Es werden keine Wahlumschläge mehr verwandt = es wird nur noch gefaltet (auch bei
Landtagswahl)
HGO-Änderung: Verlängerung der Wahlperiode auf 5 Jahre (vorher
4 Jahre)
HGO-Änderung: Verkleinerung der Parlamente
Durch Beschluss des Kommunalparlaments kann mit 2/3-Mehrheit die Zahl
der Mitglieder auf nächstniedrigere Zahl - oder dazwischen mit ungerader Zahl - verringert werden.
Dies erscheint als sinnvoll, besser wäre jedoch m. E. eine klare Festlegung für alle
Parlemente - mit Reduzierung - gewesen. 1975 bei Gebietsreform - immerhin 25 Jahre her -
wurden Mandatszahlen erhöht. Wegen der Zusammenlegung von Gemeinden wurden mehr Abgeordnete
gefordert.
Einen Antrag auf Reduzierung der Zahl der Abgeordneten hatten die Freien Bürger im Kreistag
bereits 1997 mit einem Resolutionsabtrag eingebracht. Dieser Antrag wurde jedoch abgelehnt,
ebenso inzwischen die mögliche Reduzierung.
Warum Verkleinerung unbedingt vertretbar?
Klare Zustimmung für Panaschieren, Kumulieren
Ja zu Verkleinerung der Parlamente.
Ich schließe damit, dass ich sage, man kann sich nur wundern, dass CDU/FDP diese
Änderungen im Landtag eingebracht haben. der mündige Bürger sollte diesen Parteien
eigentlich zu Dank verpflichtet sein. Denn: Es ist nicht gewiss, dass diese Parteien die
Nutznießer der Wahlrechtsänderungen sein werden. Dies weiß keine Partei.
Aber einer sollte bestimmt seine Vorteile nutzen: Der Wähler bzw. die Wählerin.
Und dies vor allem und in jedem Fall in den kleineren Gemeinden, in Bereichen bis 20 - 30.000
Einwohnern. Auf jeden Fall auch in allen Ortsbeiräten. Ob in Marburg das Panaschieren von
Mehrheit ausgenutzt werden wird, ist ungewiss. Aber es bleibt ja unbesehen auch bei der bisherigen
Methode: nur 1 Kreuz (= Partei bzw. Richtung wählen)
Zum Schluss als Tip:
Als Partei/Liste sollte man dem Wähler sagen: "Kreuzen Sie unsere Liste an.
Machen Sie zusätzlich ruhig von Panaschieren Gebrauch, indem Sie andere, Ihnen genehme,
Ihrer Meinung nach unabhängige Kandidatinnen oder Kandidaten zusätzlich ankreuzen."
Ideal für eine Partei/Liste ist zwar der Vorschlag: "Machen Sie nur ein Kreuz für unsere
Liste, dann machen Sie alles richtig!" - Aber damit erklärt man auch den Wähler für
unmündig. Der mündige Wähler wird sich solche Vorschläge, die praktisch gegen
das Panaschieren und Kumulieren gerichtet sind und alles beim alten belassen wollen, verbitten.
Lassen wir dem Wähler in seiner neuen Rolle des Auswählens über den gesamten
Stimmzettel hinweg seine Wahl treffen.
(Karl-Heinz Gimbel, im Januar 2000)
Anmerkung des Verfassers: Einige Passagen sind gekürzt oder in Stichworten aufgeführt.
| |||
Verfasser: Karl-Heinz Gimbel
![]() |
![]() ![]() ![]() |